Passen systemisches Denken und Autismustherapie zusammen?
Das werde ich, seit ich als systemische Kinder- und Jugendlichentherapeutin ein Therapiekonzept für Menschen mit einer Diagnose aus dem Autismus-Spektrum entwickelt habe, immer wieder gefragt und möchte dieser Frage gerne nachgehen.
Was heißt systemisches Denken?
Für mich bedeutet es:
- Ich betrachte alle Menschen als Teile von Systemen, in denen alle miteinander verbunden sind und sich gegenseitig beeinflussen.
- Ich gehe davon aus, dass es nicht nur eine Wahrheit gibt, weil die Wahrnehmungen und das Erleben einzelner Personen unterschiedlich sind.
- Durch ein tieferes Verständnis des menschlichen Verhaltens und Erlebens, erweitere ich meine Perspektive.
Und wenn ich noch genauer hinschaue?
Systemische Therapeut*innen und Berater*innen gehen also davon aus, dass alle Elemente eines Systems miteinander verbunden sind und sich gegenseitig beeinflussen. Dazu passt das Bild eines Mobiles, wie es früher über den Betten meiner Kinder hing. Wird ein Teil des Mobiles durch einen Windhauch bewegt, versucht das Mobile, beziehungsweise jedes einzelne Teil, durch Bewegung das Gleichgewicht wieder herzustellen. Die einzelnen Elemente stehen in Beziehung zueinander, sie haben eine Verbindung miteinander und sie bilden bestimmte Bewegungsmuster aus. Auch die Familie ist ein System. Die einzelnen Elemente sind die Familienmitglieder, welche in Beziehung und Verbindung zueinanderstehen. Diese Dynamik prägt das Verhalten und das Erleben der einzelnen Familienmitglieder. Das führt zu dem Schluss, dass jedes Element eines Systems Einfluss auf das Gesamtsystem hat, also auch jedes einzelne Familienmitglied auf die gesamte Familie. Die Verhaltensweisen einzelner Familienmitglieder beeinflussen sich wiederum untereinander und stehen in Verbindung zueinander. Dabei sind sie so beweglich, wie das schon erwähnte Mobile.
Was bedeutet systemisches Denken bezogen auf das Familiensystem?
Mit der systemischen Sicht auf das System Familie können Verhaltensweisen einzelner Familienmitglieder, auch wenn sie nicht angemessen oder förderlich sind, erst einmal als Lösungsversuche betrachtet werden ein Gleichgewicht wieder herzustellen. Kommt es zu Konflikten und Störungen im Familiensystem, kann demnach eine Veränderung nicht nur von einer Person des Systems gefordert werden. Eine Verhaltensänderung eines Familienmitglieds wird zwar immer auch Auswirkungen auf das gesamte Familiensystem haben, aber nur wenn das gesamte System berücksichtigt und einbezogen wird, kann diese Veränderung nachhaltig sein, denn das Familiensystem muss diese Änderung zum einen zulassen zum anderen aber auch selbst veränderungsbereit sein. Eine kleine Veränderung im System kann das ganze System in Bewegung bringen. Hier setzen die systemische Beratung und Therapie an.
Was ist eine systemische therapeutische Haltung?
Aus dem systemischen Denken heraus entsteht die systemische Haltung. Systemisch konsequent gedacht, gibt es kein „richtiges“ oder „falsches“ Verhalten. Es gibt auch kein durchweg „gutes“ oder „böses“ Verhalten. Verhalten wird als Lösungsversuch betrachtet. Verhalten ist entweder förderlich oder weniger förderlich. Diese Haltung hilft sich von dem sogenanntem „Schubladendenken“ zu distanzieren. Die daraus entwickelte therapeutische Haltung ist von Akzeptanz und Wertschätzung bezüglich der Persönlichkeit der Klienten und ihrer individuellen Lösungsversuche geprägt. Sie beinhaltet außerdem die Echtheit und die Authentizität als Haltungs- und Persönlichkeitsmerkmale der Therapeut*innen.
Wie beeinflusst die systemische Haltung die Autismustherapie?
Es gibt meiner Ansicht nach 5 Grundlagen für eine systemische ausgerichtete Autismustherapie
- Echtheit und Authentizität: Die therapeutische Fachkraft gestaltet ein therapeutisches Beziehungsangebot, in welchem sie sich authentisch und echt zeigt. Sie macht ihre Gefühle transparent und gestaltet ihr Verhalten nachvollziehbar.
- Die Akzeptanz der gesamten Persönlichkeit: Die therapeutische Fachkraft berücksichtigt und akzeptiert die gesamte Persönlichkeit von Menschen mit einer Diagnose aus dem Autismus-Spektrum. Das bezieht sich auf die Stärken und Ressourcen aber auch auf das nicht förderliche Verhalten, welches als Lösungsversuch betrachtet wird.
- Stärkung von Ressourcen und Kompetenzen: Die therapeutische Fachkraft entdeckt gemeinsam mit den Menschen mit einer Diagnose aus dem Autismus-Spektrum deren Stärken und Ressourcen und fördert diese.
- Der Mensch mit Autismusdiagnose ist Expert*in: Die therapeutische Fachkraft entwickelt gemeinsam mit dem diagnostizierten Menschen seine individuellen Ziele unter Berücksichtigung seiner besonderen Wahrnehmung, Kompetenzen und Ressourcen. Verbunden mit ihrem Fachwissen über Autismus motiviert sie zur Erweiterung und Flexibilisierung seines Verhaltens.
- Das Umfeld wird einbezogen:
- Die therapeutische Fachkraft gestaltet ein wertschätzendes und authentisches Beratungsangebot für die Familien. Diese werden in ihren Ressourcen und Kompetenzen unterstützt und bekommen fachliche Inputs und Methoden zur Erweiterung ihrer Erziehungskompetenz aber auch Raum sich über ihre Themen auszutauschen.
- Die therapeutische Fachkraft berät Schulen und soziale Einrichtungen zum Thema Autismus und coacht Teams, um eingefahrene Verhaltensmuster zu erweitern und anzupassen.
Und jetzt? Wie passt das zusammen?
Ich finde, dass sich das systemische Denken und die systemische Haltung in der Therapie sehr gut mit dem Wissen über das Autismus-Spektrum kombinieren lässt und zu einer sehr förderlichen, wertschätzenden und emphatischen therapeutischen Haltung führt. Hinzu kommt, dass unter systemischen Gesichtspunkten nachhaltige Veränderung, die in der Autismustherapie angestrebt wird, nur unter Einbeziehung des Umfeldes funktioniert.
Dazu ist es wichtig, dass wir …
- mit Zuschreibungen (Das Kind ist trotzig. Der Jugendliche ist respektlos. Die Eltern haben ihr Kind nicht im Griff.) und dem Schubladendenken aufhören
- das „doppelte Emphatieproblem“ (Dr. Damian Milton 2012 https://www.autismus-anders-denken.de/2-wissen/das-double-empathy-problem/) auflösen. Dieses beschreibt die Schwierigkeit von Menschen mit einer Diagnose aus dem Autismus-Spektrum ihren Platz in der Gesellschaft zu finden, weil es für sie auf Grund ihrer Diagnose oft schwierig ist Bedürfnisse und Gefühle nicht autistischer Menschen zu deuten und ihr Verhalten entsprechend anzupassen. Menschen ohne Autismus Diagnose haben wiederum Schwierigkeiten die psychische Verfassung von autistischen Menschen zu deuten und ihr Verhalten auf bestimmte Situationen zu verstehen.
- die Waage finden zwischen der Anpassung an die Umwelt von Seiten der Menschen mit Autismus und der Umwelt an Bedürfnisse von Menschen mit Autismusdiagnose, damit die Verantwortung zur Verhaltensänderung nicht allein den Menschen mit Autismus zugeschoben wird.
Fazit
Mit einer systemischen therapeutischen Haltung in der Autismus-Therapie sind die skizzierten Veränderungen möglich.
Aber: Veränderungen des Verhaltens brauchen Zeit. Auf beiden Seiten.
Wer gerne systemisch noch weiterdenken möchte, dem empfehle ich die Position der Systemischen Gesellchaft und DGSF bezüglich systemischer und demokratischer Haltung. Oder kontaktieren Sie mich für weitere Informationen über die systemische Autismustherapie und Ihre Möglichkeiten!